Deutschland erneuern. Gemeinsam

Gerhard Schröder

1. Die Wahlniederlage in Niedersachsen und Hessen ist nicht zu beschönigen. Für diese Niederlage sind unbestreitbar auch bundespolitische Einflüsse ausschlaggebend gewesen. Die Wahlergebnisse drücken die Unzufriedenheit vieler Bürgerinnen und Bürger aus. Wir nehmen dieses Signal der Unzufriedenheit ernst.

Die klare Reformorientierung, auf die wir uns bei den erfolgreichen Klausurtagungen im Januar geeinigt haben, hat ihre Wirkung noch nicht entfalten können.

Die Bundesregierung hat in den ersten 100 Tagen notwendige Veränderungen unter schwierigen Bedingungen durchgesetzt. Wir haben den Menschen viel zugemutet. Viel Gegenwind war auszuhalten.

Bei den Landtagswahlen in Niedersachsen und Hessen haben wir einen hohen Preis gezahlt. So bitter diese Niederlagen auch sind: Es bleibt bei dem Wählerauftrag, gemeinsam mit unserem Koalitionspartner Bündnis 90/Die Grünen die Politik der Erneuerung, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit fortzusetzen, die wir vor fünf Jahren begonnen haben.

2. Die Menschen in Deutschland erwarten von der Politik Orientierung und Führung. Wir müssen klare Antworten geben und Mut zur Verantwortung zeigen. Nur so werden wir Vertrauen wiedergewinnen. Wir wissen, dass das nicht in wenigen Tagen gelingen kann.

Die Wahlergebnisse sind keine Absage an die eingeleitete Reformpolitik. Wir werden unsere Reformpolitik deshalb entschieden fortsetzen. Wir sind überzeugt, dass die Mehrheit der Bürger bereit ist, Veränderungen zu akzeptieren, wenn erkennbar wird, dass diese Voraussetzung für zukünftiges Wachstum und für neuen Wohlstand sind. Und Belastungen werden akzeptiert, wenn es dabei gerecht zugeht.

Wir erneuern Deutschland, um die Herausforderungen der Zukunft zu meistern. Das Hartz-Konzept zur Arbeitsmarktreform, die Gesundheitsreform, die Mittelstandsoffensive sind große Reformprojekte, die wir eingeleitet haben und deren erste Schritte bereits realisiert sind. Wir haben die Weichen für mehr Wachstum auch unter widrigen Einflüssen der Weltkonjunktur gestellt.

Oberste Priorität hat weiterhin die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit mit einer aufeinander abgestimmten Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik. Wir werden deshalb unter schwierigen weltwirtschaftlichen Bedingungen die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, besonders der Jugendarbeitslosigkeit, in den Mittelpunkt unserer Politik stellen. Wir werden Investitionen stärken, insbesondere auf kommunaler Ebene.

Wir wollen den Sozialstaat modernisieren, um ihn zu erhalten. Dies wird nur durch weit reichende Veränderungen möglich sein. Die Systeme der sozialen Sicherung müssen weiter reformiert werden, um sie langfristig stabil und finanzierbar zu erhalten. Es geht nicht mehr um die Verteilung von Zuwächsen. Neue Ansprüche sind nicht zu erfüllen. Vielmehr werden wir – wenn wir soliden Wohlstand, nachhaltige Entwicklung und Gerechtigkeit bewahren wollen –Ansprüche zurückschrauben müssen. In diesem Sinne werden wir die anstehende Reform des Gesundheitswesens und die notwendigen weiteren Maßnahmen zur nachhaltigen Finanzierung unserer sozialen Sicherungssysteme in den kommenden Monaten fortsetzen.

3. Durch die neuen Stimmenverhältnisse im Bundesrat wird die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung nicht beeinträchtigt. Es bleibt lediglich wie zuvor dabei, dass zustimmungspflichtige Gesetze nur über eine Verständigung mit Unions-geführten Ländern zustande kommen können. Alle übrigen Gesetze werden auch weiterhin mit Kanzlermehrheit beschlossen. Bundesregierung und Bundestag bleiben handlungsfähig.

4. In den nächsten Monaten wird es darum gehen, Reformbündnisse zu bilden und um unserem Land das Zukunftsvertrauen zurückzugeben. Wir brauchen die gemeinsame Anstrengung aller. Deshalb werden wir aktiv auf Wirtschaft und Gewerkschaften, auf Bundesländer und Kommunen, auf Verbände und Einrichtungen der Zivilgesellschaft zugehen, um ein Bündnis für Deutschland zu schmieden. Wir fordern nicht zuletzt auch die Opposition auf, sich dieser Allianz für Erneuerung anzuschließen.

Bund und Länder tragen gemeinsam die Verantwortung dafür, dass unserem Land nicht von außen der Stempel der „Reformunfähigkeit“ aufgedrückt wird. Wir werden mit den Unionsparteien und den Unions-regierten Länder zu allen zentralen Reformprojekten das Gespräch suchen. Wir werden Offenheit und Kompromissfähigkeit zeigen. Wir erwarten von der Union das gleiche Verhalten. Wir erwarten konkrete Gegenvorschläge statt bloßen Neinsagens oder taktisch motivierter Nichtfestlegung.

2003 wird das Reformjahr. Folgende Reformen stehen unmittelbar auf der Agenda:

a. Wir reformieren das Gesundheitssystem. Angesichts der drängenden Probleme sollen die Entscheidungen über die künftige Struktur und die Finanzierung des Gesundheitswesens bis zum Sommer getroffen werden; die Gesetzgebung muss in diesem Jahr abgeschlossen werden.
In der Gesundheitspolitik können die gesetzgeberischen Reformschritte nur im Einvernehmen zwischen Bundestag und Bundesrat erreicht werden. Auch die Menschen in Deutschland wollen, dass über die Zukunft des Gesundheitswesens ein breiter parteipolitischer Konsens gelingt.
Deshalb wollen wir in Anlehnung an die letzte große Einigung in der Gesundheitspolitik 1992 gemeinsam mit der Opposition zu einem Ergebnis kommen.

Die Beratungen der Rürup-Kommission zur Gesundheitspolitik sollen zügig zu Ende geführt werden. Sobald die Vorschläge der Kommission zur Finanzierung und die Vorschläge der Ministerin Ulla Schmidt zur Struktur des Gesundheitswesens vorliegen, werden wir die Union zu Konsensgesprächen noch vor Eintritt in den Gesetzgebungsprozess einladen.

b. Wir haben das Rentensystem reformiert. Die Reform der letzten Legislaturperiode hat den Beitrags- und Rentenanstieg begrenzt und den Jüngeren die Möglichkeit des Aufbaus einer privaten Altersvorsorge geschaffen. Die Kommission von Professor Rürup wird ergänzende Vorschläge erarbeiten, diese Ziele nachhaltig und langfristig zu sichern.

c. Wir werden die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum 1. Januar 2004 zusammenlegen und damit die Anreize zur schnellen Wiederaufnahme von Arbeit erhöhen.

d. Die steuerliche Begünstigung von kleinen Unternehmen und Existenzgründern (small business act) werden wir schnell in den Gesetzgebungsprozess einbringen. Wichtig ist, dass wir in diesem Rahmen die Handwerksordnung behutsam liberalisieren.

e. Das Ladenschlussgesetz wird geändert und die Öffnungszeit auch am Samstag wie an allen anderen Werktagen auf 20.00 Uhr ausgedehnt. Auch die verbraucherunfreundlichen und wettbewerbshinderlichen Regelungen des UWG werden modernisiert.

f. Auf die konjunkturell bedingten Mehrausgaben und Einnahmeverluste haben wir mit dem Steuervergünstigungsabbaugesetz reagiert. Es schließt Steuerschlupflöcher. Das Gesetz steht nun zur Beratung im Bundesrat an. Wenn der Bundesrat einzelne Maßnahmen nicht übernehmen will, werden wir zum Ersatz für die daraus resultierenden Einnahmeausfälle keine neuen Steuern vorschlagen. Dies gilt auch für die Mehrwertsteuer. Im Interesse der Haushalte der Länder und Kommunen erwarten wir Gegenvorschläge der Unionsländer. Wir halten trotz der schwierigen Situation an der Steuerreform fest. Die Steuerentlastungen in den Jahren 2004 und 2005 kommen wie beschlossen.

g. Wir setzen den Weg der Haushaltskonsolidierung fort. An ihr führt in Hinblick auf die Zukunftsfähigkeit unseres Landes und die Zukunft der nachfolgenden Generationen kein Weg vorbei. Die Defizite der Sozialversicherungsträger, der Gemeinden, der Bundesländer und des Bundes müssen im Rahmen der Maastricht-Kriterien bleiben.

h. Die Neuregelung der Besteuerung der Zinserträge bringen wir auf den Weg. Entsprechend der Vereinheitlichung mit den anderen europäischen Staaten schlagen wir eine Abgeltungssteuer von 25 % und Kontrollmitteilungen vor.

i. Die Politik für Kinder steht für uns im Mittelpunkt. Wie vereinbart, stellen wir 4 Milliarden Euro für die Ganztagsbetreuung zur Verfügung. Die dafür notwendige Verwaltungsvereinbarung mit den Ländern wird in den nächsten Wochen abgeschlossen. Den Gemeinden wollen wir jährlich 1,5 Milliarden Euro von der Kostenentlastung für arbeitsfähige Sozialhilfeempfänger belassen. Diese Mittel sollen für zusätzliche gute Betreuungsangebote von Kleinkindern verwendet werden.

j. Deutschland braucht ein modernes Zuwanderungsrecht. Unser Zuwanderungsgesetz wird von allen relevanten gesellschaftlichen Gruppen unterstützt. Wir erwarten von der Union, dass sie ihren taktisch motivierten Widerstand im Vermittlungsausschuss aufgibt.

5. Die föderale Ordnung Deutschlands hat sich bewährt. Aber auch dieses System von Institutionen und Regeln muss sich als reformfähig erweisen. Vielfach werden die politischen Entscheidungsprozesse bei uns als zu schwerfällig und langsam empfunden. Wir werden darüber ebenso wie über die Verbesserung der Finanzlage der Kommunen das Gespräch mit den Ländern intensivieren (Gemeindefinanzreform). Dabei steht die Stärkung der kommunalen Investitionskraft im Vordergrund. Dieser Reformprozess ist unabhängig von den aktuellen Mehrheitsverhältnissen im Bundesrat und Bundestag voranzutreiben.

6. Europa wird in diesem Jahr weiter zusammenwachsen. Die Bundesregierung hat in dem historischen Prozess der Erweiterung und der Vertiefung der Europäischen Union eine tragende Rolle eingenommen und maßgeblich zum erfolgreichen Abschluss der Erweiterungsverhandlungen in Kopenhagen beigetragen. Damit wurde ein wirklich historischer Schritt auf dem Weg zu einem geeinten Europa ermöglicht. Die Unterzeichnung der Verträge steht unmittelbar bevor. Der Konvent wird eine neue Verfassung für Europa vorschlagen. Gemeinsam mit Frankreich hat Bundeskanzler Schröder Vorschläge für eine grundlegende Reform der Gemeinschaft vorgelegt, um die politische Handlungsfähigkeit Europas auch künftig zu sichern und die Organe der Gemeinschaft zu stärken. Die Staats- und Regierungschefs werden diesen Verfassungsprozess noch in diesem Jahr zu Ende bringen.

7. Die klare Haltung Deutschlands, sich nicht an einem Krieg im Irak zu beteiligen, ist von zentraler Bedeutung, um die Entwaffnung des Iraks auf einem friedlichen Weg zu erreichen. In enger Abstimmung mit Frankreich werden wir unsere internationalen Bemühungen zu einer friedlichen Lösung des Irak-Konflikts fortsetzen.

Der gewachsenen internationalen Verantwortung und der neuen Rolle Deutschlands werden wir bei der Bekämpfung des internationalen Terrors gerecht und setzen das Engagement bei „Enduring Freedom“ fort. Die Bundesrepublik stellt heute das zweitgrößte Truppenkontingent zur friedlichen Lösung regionaler Konflikte in der Welt bereit.

Demgegenüber isoliert sich die Union in diese Frage der internationalen Politik immer stärker. Die Deutschen unterstützen den Kurs von Bundeskanzler Schröder mit großer Mehrheit.

8. Die Rolle der Partei wird sich nicht auf die Begleitung und die Vermittlung der Regierungspolitik beschränken. Sie muss über den Zeitraum einer Legislaturperiode hinaus denken und die Grundrichtung zukünftiger Reformprozesse bestimmen. Und sie muss den roten Faden der Politik aufzeigen. Eine aktive und lebendige Partei ist neben einer erfolgreichen Regierungspolitik eine unverzichtbare Basis für künftige Wahlerfolge. Die SPD ist sich ihrer Tradition als Mitgliederpartei bewusst. Sie diskutiert die wichtigen Zukunftsfragen auch kontrovers und entscheidet nach einer breiten Debatte. Wir werden den Prozess der Diskussion der programmatischen Perspektiven vorantreiben und dazu erste Arbeitsergebnisse noch in diesem Jahr vorstellen. Dabei streben wir nicht Ausgewogenheit und Formelkompromisse sondern klare Orientierungen und Entscheidungen an.

Wir werden alle Gliederungen der Partei, aber auch die gesellschaftlichen Gruppen und Kräfte außerhalb der Partei zu intensiven Debatten einladen. Wir werden damit unsere Attraktivität für neue Mitglieder, aber auch für neue Wählerinnen und Wähler steigern.